Leseprobe – Blick auf Andere

"Das vielleicht Wichtigste, was wir getan haben, war, diese Respektlosigkeit aufzubringen, Dinge zu tun, die man nicht tut, Dinge zu sagen, die man nicht sagt, dieser Heuchelei der glücklichen Leute die Stirn zu bieten. Wir haben ihnen das unangenehme Schauspiel des ungerechten Leidens, der ungerechtfertigten Verzweiflung von Unglücklichen in die Visage geworfen. Man muss mich gar nicht darum bitten, milde zu sein und reiflich zu überlegen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Genauso wenig muss man mich darum bitten, brav zu sein, wie man einem Kind sagt: „Sei brav, sitz still.“ Das lohnt nicht. Ich werde niemals so brav sein. So ist das halt, ich bin so gemacht."

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"Wir haben es satt, Partisanen zu sein für Angelegenheiten, die kleiner sind als die des Universums. Jetzt schon erwachen die Menschen,  und nicht nur einige Vorläufer, sondern Menschenmassen in Volksmassen, zu einem neuen Bewusstsein, einem universellen Bewusstsein."

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"Werden die Armen und die „Ausgegrenzten“ lange friedlich warten? Unsere Geduld ist respektlos, Schluss damit. So viele Initiativen sind zu ergreifen, damit dieses Gefühl der Ohnmacht nachlässt, das sich sehr schnell zu einer Entschuldigung auswächst und schließlich zum Vorwand wird, gar nichts zu tun!"

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"Der Mensch trägt ein Verlangen nach Unendlichkeit, nach Ewigkeit, nach dem Absoluten in sich und er lebt in der Endlichkeit, in der Zeit, im Relativen. Er ist also von Grund auf, ontologisch unzufrieden. Wenn er sich dessen nicht bewusst wird, überträgt er dieses tiefste Verlangen auf die Ebene des Habens: Er ist dann ohne Unterlass auf der Jagd nach materiellen Gütern und momentanen Freunden, die ihn nie zufriedenstellen können. Also wird er ewig unzufrieden sein, weil er sich über die Natur von wahrem Gut hinwegtäuscht. Wenn er nicht klarsichtig ist, kann er sich auch selbst belügen und in der Illusion leben, zufrieden zu sein oder mit irrigen Mitteln zufrieden werden zu können. Aber hört man nicht auf, ein Mensch zu sein, wenn man sich befriedigt fühlt?"

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"Wir tragen die Sonne in uns und wir tragen die Miene einer rußenden Kerze neben der Finsternis zur Schau."

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"Wir müssen uns vor krankhafter Schwarzseherei hüten, die uns glauben lassen könnte, dass die Welt ein einziger Horror ist. Lasst uns den Mut haben, mit einem Auge all das entsetzliche Übel der Welt anzusehen, aber lassen wir auch das andere Auge offen, um den Rest zu betrachten.(…) Das Gute ist weniger sichtbar als das verbreite te Übel.  An uns, die wir Augen haben, liegt es, niemals die vielfältigen, kaum sichtbaren Formen des Guten zu vergessen."

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"Wenn du leidest
Liebe stärker
Liebe die,
Die mehr in Tränen zerfließen als du
Die mehr frieren
Die größeren Hunger haben
Die mehr in sich selbst verschlossen sind
Die faktisch nicht existieren
Die sich selbst mehr fehlen
Keine tiefere Freude
Ist dir möglich
Liebe sie zur Genüge
Um sie all die ihnen mögliche Fülle
Erleben zu lassen
Sie werden dir wehtun?
Liebe sie noch mehr."

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Zusammengestellt von Jean Rousseau, Präsident von Emmaus International. Das französische Original erschien 2015 im Verlag cherche-midi, Paris unter dem Titel "Abbé Pierre. Pensées inédites. Pour un monde plus juste" Siehe Website des Verlags cherche-midi:

https://www.cherche-midi.com/livres/pensees-inedites

 

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